Der Individuationsprozess

Die Vereinigung der Gegensätze

Der Individuationsprozess…
bedeutet, die Fragmentierung zu überwinden und Gegensätze der Persönlichkeit zu vereinbaren.
Eine individuierte Persönlichkeit gibt kein einheitliches und harmonisches Bild ab, wie es über eine zivilisierte Sozialisation suggeriert wird, sondern hat Ecken und Kanten und ist voller Widersprüche.
Ziel der Individuation ist es, die Widersprüche zu integrieren und damit in die Mitte zu kommen, in der wir den Gegensätzen nicht mehr unterworfen sind.

Die Inhalte können nur integriert werden, wenn sie nicht ausschließlich intellektuell erfasst, sondern auch in unserer Gefühlswelt transformiert werden.
Im Individuationsprozess erhalten wir Antworten darauf, wer wir außer dem sind, was wir ohnehin schon von uns wissen. Hierbei ist eine erforschende, offene Haltung von Nichtwissen notwendig.
Ich lerne bislang ungesehene, verdrängte Gedanken und Emotionen von mir kennen. Durch eine behutsame bewusste Hinwendung zu allem, was in uns verborgen liegt und zu sämtlichen Befindlichkeiten wie zu Angst, Trauer, Scham, Schmerz, Enge etc. erlösen wir zugleich das innere Kind – das u.a. ein Konstrukt aus diesen unerlösten Empfindungen darstellt und gewissermaßen daraus besteht.

Das, was wirklich zu unserer individuellen Wesensnatur gehört, kann sich nicht auflösen und kommt hierbei sukzessive erblühend zum Vorschein, während alles, was nicht unserem authentischen Ausdruck entspricht, sich auf-bzw. erlöst und von uns abfällt. D. h. vieles der Energien, die das verletzte innere Kind ausmachen, sind lediglich gespeicherte geistig-emotionale  Konstruktionen in Form komprimierter Energiebündel, die dann entlassen werden können. So wird es zunehmend auch auf tieferen Ebenen leichter, lichter und weiter in uns.
Damit befreien wir zugleich unsere Potenziale, da uns zum einen die darin eingekapselte Lebensenergie wieder frei zu Verfügung steht und zum anderen, im Schatten nicht nur sog. “negative”, sondern auch die so wertvollen “positiven” Anteile liegen, die einst u. a. aufgrund von Erziehung und Sozialisation nicht ausgelebt werden durften und konnten. Hierin liegen zu ent-deckende Perlen unseres menschlichen Lebens verborgen.
Loslösung / Befreiung / tiefer Frieden und auch Entspannung des menschlichen Organismus und (Nerven)Systems sind ein Nebeneffekt, der sich in und durch diese Prozesse ganz von allein einstellt.

Dem zufolge sind wir zuvor nicht ganz, wir selbst. Daher…

Werde, wer du bist.
Weder von Außen noch von Innen bestimmt.
Besser gesagt: nicht mehr vorher-bestimmt. Nicht mehr aus bereits Vor-Gegebenem – sei es Innen oder Außen konnotiert seiend. Denn das stellt lediglich eine Wiederholung oder Kopie dar, die die Natur -als frei fließendes unkonditioniertes-Sein- so eigentlich nicht kennt.
Weder vom Außen durch kollektive/elterliche/soziokulturelle/gesellschaftliche Normen, Rollenerwartungen, Maßstäbe und Werte, wie man sein sollte, was man tun oder lassen sollte, noch vom (unteren) unbewussten Innern bestimmt – werden wir, wer wir wirklich sind – ermöglichen und finden wir in unsere ureigenste Form und Einzigartigkeit. 
D. h. es gilt diesbezüglich sowohl Konditioniertes zu verlernen und Unbewusstes zu integrieren, als auch unsere Kontrollmechanismen zu durchschauen und loszulassen, die unseren spontanen Selbstausdruck blockieren.

Und wer wir dann letztlich sind oder sein werden, das weiß keiner.
Weder du noch ich. Das entfaltet sich in jedem Moment immer wieder neu.
Dadurch wird lediglich ein Same gesetzt, der sich nun sukzessive frei von inneren und äußeren überlagernden Einflüssen pur aus sich selbst heraus in seiner spezifischen Eigenart aufgehen und erblühen kann –
während wir Zeuge und Ausformung dieser kosmisch-natürlichen einzigartigen Entfaltung in und durch uns selbst sind.
Unser Geburtsrecht – um das uns eine pathologische, weil entwurzelte, ver-rückte, kapitalistisch orientierte narzisstische Welt gebracht hat, deren Werte und Maßstäbe stets außen orientiert und zutiefst unbewusst überwiegend auf Kampf-Flucht und Überlebensmechanismen reduziert sind –> Angst als tiefes Grundgerüst und Motor unseres Seins und Handelns.

Ich sage deshalb im ersten Absatz “unteres” Unbewusstes, um eine Differenzierung zwischen der Ebene verdrängter Elemente wie Traumata und negative Erfahrungen und damit verbundener Schmerz und unserem höheren Unbewussten – das beispielsweise die Intuition, Talente oder verborgene Potenziale und Eingebungen des höheren Selbst beinhaltet – zu unterscheiden.

D. h., wenn wir uns frei von Überlagerungen ausdrücken, dann erscheint dieser Ausdruck ohne Umwege, ohne einen Filter des Angelernten oder den rationalen Verstand – über seine Aufgabe als innerer Informations-Transmitter hinaus- zu passieren, direkt und unmittelbar und damit ebenfalls aus dem Unbewussten – daher wissen wir auch nichts darüber im Voraus.
Sowohl die sog. positiven Aspekte des verdrängten Schattens können sich hier zeigen, genauso wie unterdrückte Impulse, die zuvor beispielsweise durch den inneren Zensor blockiert waren, ebenso wie auch unser intuitives/höheres Wissen, das aus der Anbindung zu unserem wahren/höheren Selbst fließt.

Individuation ist demnach die Herausbildung des Besonderen, jedoch nicht einer gesuchten, sich selbst bzw. von Außen auferlegten, zugeschriebenen Besonderheit, sondern einer, die a priori angelegt ist.

Unterbleibt die Individuation und wird das Leben stattdessen an kollektiven Maßstäben ausgerichtet, so erzeugt das Unterbewusste bei einigen Menschen Symptome (Krankheiten, Krisen, Depression u. ä.) mit der Zielsetzung, eine Veränderung der Lebensumstände und der Haltung zu sich selbst herbei zu führen, damit die Lebensaufgabe oder der tiefere Sinn bzw. der authentische(re) Ausdruck des im individuellen Samen angelegten, der sog. (Seelen-)Wunsch oder Wille doch noch enthüllt und in die Umsetzung gelangt. 

Dieser Vorgang der Entfaltung endet nie. Er ist eine stete Neu-Entdeckung und Annäherung an dem wie und wer wir sind, was für uns stimmig ist, an dem, was für uns durch unsere bewältigten Herausforderungen und/oder Krisen charakteristisch ist – weil wir dazulernen, uns entwickeln, weil jeder Ausdruck vorläufig ist und dem Wandel unterliegt, und zu guter Letzt, weil die Persönlichkeitskomponenten aus dem Unbewussten unendlich sind. Wir wissen nie, was in unseren Tiefen verborgen liegt und ans Tageslicht gelangt, oder welche Herausforderungen uns das Leben noch liefern wird und was sich daraus, in Interaktion mit der Welt und unserem inneren Wesen entwickelt.

Hier wird ziemlich deutlich, dass wir gewissermaßen mystische, geheimnisvolle, nie vollständig durchdringbare Wesen sind. Dass wir mit einer Unendlichkeit verbunden sind und viel mehr, viel weiter und tiefer beschaffen, als die Summe unserer sichtbaren und ins Bewusstsein gehobener Anteile.
Weshalb wir sagen können:
Wir sind nicht ausschließlich die definierbare Persönlichkeit mit ihren Begrenzungen und schon gar nicht unsere konditionierten Überlagerungen, die unserem authentischen Wesen übergestülpt sind und auch als Persona (->Maske= ScheinSelbst=Ego) bezeichnet wird. Unser Sein ist in seiner Essenz scheinbar Teil einer gänzlich anderen Dimension als diese sichtbare, (be-)greifbare Welt, die wir folglich als “spirituell” oder “transzendent” bezeichnen. Einfach, weil sie so unendlich viel Potenzial beherbergt, so undurchschaubar ist und auch so intelligente, kraftvolle Wirksamkeiten beispielsweise der schöpferischen Kunst, aber auch der Regeneration und Heilung in sich birgt.

Darum ist ein Ankommen, das einen statischen Zustand impliziert, eine Fiktion. Das würde Stillstand unserer evolutionären Ausgestaltungsformen bedeuten. Ein Ende der Entwicklung eines höchst komplexen Wesens, das Nähe zu einer undurchsichtigen Unendlichkeit, das mit etwas so Geheimnisvollen, gänzlich unerforschten wie Bewusstsein “ausgestattet” ist, von dem die Wissenschaft bis heute nicht klären konnte, wie und wo es tatsächlich entspringt – wie auch? Wissenschaftliches Arbeiten orientiert sich an messbaren Fakten, hier aber bewegen wir uns in unermesslichen, nicht direkt greifbaren, nicht verort-oder objektivierbaren Dynamiken, Dimensionen und Erscheinungen. Was ist es beispielsweise, das dem Tier oder der Pflanze Leben einhaucht? Wie kommt das zustande? Eben… sie (die Wissenschaft) weiß es nicht.

Sowohl den permanenten Wandel als auch Gegensätze wie “hell und dunkel” wird es innerhalb der Dualität, aus der die sichtbare Welt besteht und zu der auch unsere Ausdrucksformen gehören, immer geben.
Im Individuationsprozess, der, wie gesagt, eine stete Annäherung bedeutet, erkennen wir durch Integration und Transformation, dass wir beispielsweise hell UND dunkel verkörpern, und gelangen dadurch in die Mitte.
Wir sind beides, und darum weder (nur!) das eine noch (nur!) das andere – ausschließlich.
Sowohl als auch und darum: weder noch – gänzlich!  Ein Paradox. 
Wir gelangen in ein undefiniertes, nicht als irgendetwas zu bezeichnendes BewusstSein – jenseits von beidem und allem.
Hier, bin ich – in der Mitte, die nicht mehr an polaren Definitionen geknüpft und damit nicht mehr mit etwas Bestimmten vollständig identifiziert ist.
Die nicht mehr als “dies” oder “das” , als “so” oder “so” zu bezeichnen ist.
Jenseits von Dualitäten, die mich und die Welt schablonenhaft beschreiben, was mich frei von einer mich begrenzenden Enge der ausschließlichen Identifikation mit meinen personalen Aspekten und (deren) Bewertungen macht.
Wir erleben inneren Frieden, innere Freiheit und Weite, die eine tiefe Gelöst-und Entspanntheit bewirkt. Wir fühlen uns vollkommen ganz-heitlich und erleben eine natürliche grundlose Freude, wie wir sie von Babys und Kleinkinder kennen, die noch in genau diesem unschuldigen, wertfreien, natürlichen Seinszustand wonnig vor sich hin glucksen und lächeln, weil sie keine derlei Begrenzungen beschweren.

Das ist die eigentliche sich immerzu neu etablierende Ganzheit, der ein dauerhafter innerer Frieden und Gelassenheit immanent ist und die keine personale Vollkommenheit benötigt.

Individuation bedeutet also u. a. Befreiung von allem, was von Außen an uns herangetragen wurde und wir teilweise sehr früh in unserem Leben unbewusst internalisiert haben. Das wiederum hat ein ScheinSelbst, die sog. Persona, die übersetzt “Maske” bedeutet, entstehen lassen, wodurch das Kind quasi aus dem Paradies, der grundlosen Glückseligkeit geworfen wurde und es zunehmend vergessen lässt, wer es eigentlich wirklich ist.
Während das Baby oder das 1-2jährige Kleinkind sich, dessen nicht bewusst war, erleben wir diese Rückanbindung nun ganz bewusst im erwachsenen Bewusstsein.

Individuation lässt die Individualität eines Jeden ausgeprägter erscheinen, und bedeutet ebenso eine Entwicklung zu mehr Autonomie und Mündigkeit. Und das führt -paradoxer Weise- nicht zu Abspaltung gegen unsere Mitmenschen und zu Einzelgängertum, sondern zu mehr Gemeinschaftsgefühl und Beziehungsfähigkeit. Denn hier erkennen wir kurz gesagt, wie sehr wir Menschen von unserer grundlegenden konstitutionellen Beschaffenheit her im selben Boot sitzen, in der Tiefe alle derselben Essenz entspringen und auf dieser Ebene verbunden, eins sind.

 © Siam Borjini

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